Ein Blick hinter die Schreie bei Demenz
Schreien geht gar nicht. Darüber sind wir uns einig. Etwas mehr Verständnis für die unbekannte dementielle Gedankenwelt stände uns aber gut, denn auch wir schreien manchmal.
Von Birgit Lembeck
| 14. Dezember 2023
Eine voranschreitende Demenz lässt die Kommunikationsfähigkeit immer mehr verkümmern. Das Sprachvermögen löst sich langsam auf und als letztes Kommunikationsmittel bleibt dann manchmal nur noch das Schreien. Im Fachjargon wird das Phänomen als „herausforderndes Vokalisationsverhalten“ umschrieben. Da schwingt ein Vorwurf mit. Doch der Begriff bezieht sich nicht direkt auf die demenziell erkrankte Person, sondern auf die betroffene Umwelt, die von dem Schreien überfordert ist. Schreien ist tabuisiert in unserer Gesellschaft. Doch die/der Erkrankte will ja nicht herausfordern oder jemanden verärgern, sondern das scheinbar grundlose Schreien ist immer mit einer Bedeutung für die Person verknüpft. Erschwerend kommt hinzu – und das muss man sich vorab erstmal klarmachen -, dass die demente schreiende Person sich ja nicht erinnern kann, dass sie vor einem Moment schon mal geschrien hat.
Schreigründe können sein:
- physisch: Schmerzen, Hunger, Durst, Kälte
- psychisch: Angst, Wut, Erregung, Freude
- religiös: Klage, Hilfeschrei
- sozial: Einsamkeit, Berührungsdefizit, Aufmerksamkeitsdefizit
- Reizüberflutung
- fehlende Beschäftigung, Langeweile
Diese Dinge sind erst einmal abzuklären. Die Suche nach der schreiauslösenden Ursache ist jedoch in den meisten Fällen nicht zu ergründen. Doch was kann man dann tun?
Manchmal kann man über biografisches Wissen Rückschlüsse ziehen und individuelle Maßnahmen ergreifen. Auch die Bereitstellung einer beruhigenden Umgebung kann helfen, zum Beispiel mit schöner Musik, ätherischen Ölen, einer Massage, einem Kuschelnest bauen, einem Schaukelstuhl, einer Spazierfahrt oder einfach einer Umarmung. Auch Ablenkungen können das Problem lösen. Natürlich nur kurzfristig, denn das Vergessen wird schneller sein und überholen. Fantasie ist gefragt, eine Gebrauchsanweisung gibt es nicht.
Die Demenzforschung hat sich darauf konzentriert, die Ursachen für das Schreiverhalten besser zu verstehen. Ein interessanter Ansatz findet sich in der 2020 erschienenen Monografie „Herausforderndes Verhalten bei Demenz. Bedürfnisse erkennen und gelassen darauf eingehen“ von Bo Hejlskov Elvén, Charlotte Agger und Iben Ljungmann. Die drei Autoren nehmen einen Grundsatz der amerikanische Psychologin Ross W. Greene als Ausgangsthese: „Menschen benehmen sich gut, wenn sie es können.“ Dies gilt selbstverständlich auch für Menschen mit Demenz. Sie würden sich gut benehmen, wenn sie es könnten. Doch sie können nicht, weil die Affektregulation gestört ist und sie die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und zur Selbstbeherrschung verloren haben. Insofern ist es völlig sinnlos, zu versuchen, einem Menschen mit Demenz beizubringen, wie man sich benimmt, oder ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Eine Ermahnung wie „Jetzt schrei doch nicht so rum, du weckst ja alle auf!“ ist völlig sinnlos, denn die Schäden am Gehirn machen es ihm unmöglich, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und sich adäquat zu verhalten. Wir müssen uns also über die Fähigkeiten der Person im Klaren sein und unsere Erwartungen entsprechend danach ausrichten. Verständnis ist schwierig, wäre aber gut, schließlich schreien auch wir in schwierigen Situationen oder verhalten uns unangemessen. Das kann zum Beispiel passieren, wenn wir keinen anderen Ausweg mehr sehen. Das nennt sich dann temporärer Affektkontrollverlust. Und in diesen Situationen sind wir auch alles andere als einsichtig. Wenn wir uns das so bewusstmachen, kann es den Umgang mit dementiell Erkrankten erleichtern.
Die Betreuung von Menschen mit „herausforderndem Vokalisationsverhalten“ erfordert also Einfühlungsvermögen, Geduld und Verständnis. Schreie sind nicht nur ein Laut, sondern Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen. Es liegt an uns, mit Fantasie und Empathie lösungsorientierte individuelle Maßnahmen zu finden und nicht unreflektiert mit Medikamenten oder gar einer Heimeinweisung zu reagieren, die das Problem nur verschärfen könnte. In belastenden Momenten sollten wir daran denken, dass auch wir uns manchmal unangemessen verhalten, wenn wir in Not sind. Das Verständnis für Menschen mit Demenz kann einen großen Unterschied in ihrer Lebensqualität ausmachen. Und es erleichtert uns den Umgang ebenso, auch wenn wir letztendlich nicht viel gegen das Schreien in der Hand haben. Bleibt zu hoffen, dass die Demenzforschung weiter voranschreitet und uns vielleicht irgendwann einmal Einblicke in die dementielle Gedankenwelt geben kann.
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